4.3.2015—10.5.2015
Creative Climate Care Galerie
Für seine Einzelausstellung im MAK entwickelte der Künstler Alfredo Barsuglia (geb. 1980 in Graz) eine komplexe architektonische Installation, deren thematische Ebenen sich vielschichtig überlagern. In für seine Arbeit charakteristischer Weise verknüpft Barsuglia dabei Elemente des Gewohnten mit dem Unerwarteten und lotet die Grenzzonen und Übergänge zwischen Öffentlichkeit und Privatheit aus.

Der Begriff „Cabinet“ bezeichnet einen kleinen Raum, der im 18. Jahrhundert durch die neu wahrgenommenen Anforderungen an die Privatsphäre im Kontext der standardisierten Repräsentationsräume der französischen Barockarchitektur geprägt wurde. In unmittelbarer Nachbarschaft zum privaten Schlafzimmer gelegen, galt das „Cabinet“ als intimer Raum, der dem offiziellen Protokoll entsprechend nicht von BesucherInnen betreten werden durfte. Das „Cabinet“ hat seine Wurzeln im „Studiolo“ der italienischen Renaissancezeit und diente – analog zum feminin konnotierten „Boudoir“ – als Rückzugsraum und Arbeitszimmer für einen Mann. Dem neugewonnenen Bestreben nach Rückzug und Privatheit lag das Gedankengut der Humanisten zugrunde, die in der Verbindung von Bildung und Wissen mit positivem Verhalten die optimale Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten sahen, über die sie ein idealisiertes Weltbild definierten. Der Ort diente somit der Einkehr und dem Nachdenken, an dem sein Bewohner – ganz im Sinne des Humanismus – seinen Beschäftigungen mit Büchern, wissenschaftlichen Unterlagen und (Kunst-)Gegenständen ungestört nachgehen konnte.

Barsuglias Cabinet ist ein artifizielles Setting inmitten des Museums, das den Ausstellungsraum in eine Abfolge privater Wohnräume transformiert. Wie ein Regisseur inszeniert Barsuglia das räumliche und gedankliche Eindringen in die Privatsphäre eines fiktionalen Bewohners, vielleicht des Künstlers selbst, indem die BesucherInnen durch eine vielschichtig verwobene Narration geleitet werden, die durch individuelle Assoziationen immer wieder neu erzählt wird. Während die ersten Räume noch weitgehend karg möbliert sind, verdichtet sich die Installation bei der weiteren Annäherung immer mehr und kulminiert im Hauptraum, wo sich die Spuren menschlicher Präsenz und spezifischer Interessen zu einem möglichen Bild über den erdachten Bewohner zusammenfügen. Jeden Dienstagabend können BesucherInnen (max. fünf gleichzeitig) bei einem Abendessen mit dem Künstler im „Cabinet“ die Installation auf ihre ganz persönliche Weise erleben.

Mit gezielten Realitätsbrüchen – Fensterausblicken in die Mojave-Wüste – entspinnt der Künstler einen zusätzlichen Handlungsstrang, der auf einer weiteren inhaltlichen Ebene auf die Frage nach Rückzug, Autonomie und persönlicher Bestimmung des Menschen im Kontext einer zunehmend globalisierten Welt verweist. In der Mojave-Wüste um Los Angeles finden sich bis heute die Relikte und Ruinen von Behausungen, sogenannten „Homesteads“, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen des „Homestead Act“ der USA errichtet worden waren. Die Regierung hatte allen volljährigen BürgerInnen der USA das Recht eingeräumt, sich auf einem etwa 160 Acres (ca. 64 Hektar) großen, bis dahin unbesiedelten Stück Land niederzulassen und es selbstständig zu bewirtschaften. Der heute verwendete Begriff des „Homesteading“ definiert sich über größtmögliche Autonomie (bis hin zu Autarkie) im Sinne eines nachhaltigen Lebensstils. „Homesteading“ basiert auf der Idee der Selbstversorgung ohne Rückgriff auf das öffentliche Versorgungssystem, oft unter Berücksichtigung erneuerbarer Energieformen (bis hin zum Leben „off the grid“, das auch den Verzicht auf das öffentliche Stromversorgungsnetz oder die Unabhängigkeit vom Wasser- und Gasnetz impliziert) und Do-It-Yourself-Produktion (von Nahrungsmitteln, Kleidung, Mobiliar etc.). In Referenz zu Henry David Thoreaus bekanntem Werk Walden (1854) exemplifiziert Barsuglia mit seiner Installation, deren Ausstattung er fast gänzlich selbst gebaut hat, seiner eigenen Ideologie entsprechend die Haltung des „Homesteading“ als begehbaren Modellfall und Sinnbild für Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. In Walden schildert Thoreau sein persönliches soziales Experiment und seine Reflektion über den Begriff des einfachen Lebens sowie die Möglichkeit autonomer Selbstversorgung, während er in einer von ihm selbst am Walden Pond, einem See in Massachusetts, errichteten „Cabin“, einer Blockhütte, über zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in nur drei Kilometern Entfernung vom Haus seiner Familie lebte.

Beim Anblick der verlassenen Häuser in der Wüste mag der Versuch, sich aus der Konsumgesellschaft auch räumlich zurückzuziehen, auf das Scheitern von Aussteigerutopien verweisen. Anders als das autarke Leben in unbesiedelten Gebieten oder am Rande der Gesellschaft versteht sich „Homesteading“ aber als Lebenseinstellung, die in Hinblick auf nachhaltigen Konsum und ökologische Fragestellungen unabhängig vom Lebensmittelpunkt, also auch mitten in der Großstadt, eingenommen und vertreten werden kann. Mit der Auskoppelung aus dem Wirtschaftssystem wird das Bestreben formuliert, individuell einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, indem beispielsweise bestimmte Waren aus ökologisch zweifelhaften Produktionsketten nicht konsumiert werden (wie Fleisch aus nicht artgerechter Tierhaltung oder umweltschädliche Produkte) und bestimmte Lebensbereiche durch das Erlernen einfacher handwerklicher Fähigkeiten (wie beispielsweise Brot backen, Gegenstände reparieren und Kleidung nähen oder einfaches Mobiliar aus Holz bauen) autonom betrieben werden können.

Die erhöhte Achtsamkeit und genaue Beobachtung des eigenen (Konsum-)Verhaltens führt zur Hinterfragung des Anspruchs auf „Luxusgüter“ sowie der omnipräsenten Verfügbarkeit kurzlebiger Produkte mit deren (falschen) Versprechungen, die ihren Tribut an die Natur und unsere Lebenswelt fordern. In der Reflektion über den Begriff der Eigenverantwortung nimmt Barsuglia eine antikapitalistische Perspektive ein und stellt letztlich die Frage, wie man dieses Bewusstsein in den eigenen Lebensentwurf übertragen kann.
 

"Jour Fixe" mit Alfredo Barsuglia

Jeden Dienstagabend ab 20 Uhr konnte das Cabinet vom Künstler und fünf weiteren Personen zum Abendessen genutzt werden. Als lebendiger Teil der Ausstellung konnte der „Jour Fixe“ von BesucherInnen geplant oder spontan besucht werden (First-come, first-served).

 

AUSSTELLUNGSREIHE 
ANGEWANDTE KUNST. HEUTE 

Eine Kooperation von MAK und Universität für angewandte Kunst

Mit der Ausstellungsreihe ANGEWANDTE KUNST. HEUTE soll eine Plattform für zeitgenössische Formen der angewandten Kunst und damit eine größere Sichtbarkeit für interessante Positionen in Österreich lebender und arbeitender AbsolventInnen der Universität für angewandte Kunst geschaffen werden.


AUSSTELLUNGEN

ANGEWANDTE KUNST. HEUTE 


Patrycja Domanska. Stimuli
19.10.2016 - 14.5.2017
Kay Walkowiak. Forms in Time 
20.4. – 2.10.2016
Alfredo Barsuglia. Cabinet
4.3.2015–10.5.2015
Valentin Ruhry. Grand Central
8.10.2014–8.2.2015
soma Architecture
13.5.–14.9.2014
Lisa Truttmann. My Stage is Your Domain
19.6.–6.10.2013
Marco Dessí. Still Life
30.1.2013–5.5.2013
taliaYsebastian. The Committee of Sleep
3.10.2012–6.1.2013
Stiefel & Company Architects. Faux Terrains
23.5.–16.9.2012
Patrick Rampelotto. Adventures in Foam
25.1.–6.5.2012